Arzt an der Grenze
Zu Khalil Bajbouj kommen Flüchtlinge nicht nur, weil er ihre Kinder in der Erstaufnahme untersucht. Er versteht auch ihre Ängste.
von Esther Gardei
Christian Adjerni ist erst ein Jahr alt, aber hat schon eine gefährliche Reise hinter sich. Jetzt hat er Fieber und sitzt in einem Zelt, zieht angestrengt die Augenbrauen zusammen. Konzentriert stützt er sich mit seinen kleinen Fingern auf der Untersuchungsliege ab, um nicht umzukippen. Er blickt mit geöffnetem Mund zu seinem Arzt hoch, so, als wollte er etwas sagen. Dann brabbelt er klagend vor sich hin. Khalil Bajbouj lässt sich davon nicht ablenken, behutsam stützt er den Kleinen an der Schulter und steckt ihm den Holzspatel in den Mund. „Aaaah!“, macht er und der Kleine zuckt zusammen „Schon vorbei.“ Christian schüttelt angeekelt den Kopf, als Bajbouj sich kurz von ihm abwendet, und wischt sich mit der linken Hand über den Mund.
Khalil Bajbouj ist der einzige Arzt vor Ort
Seine Mutter Kimberly ist mit ihm erst vor zwei Tagen aus Uganda in der Erstaufnahmeeinrichtung an der Buschmühle in Dortmund angekommen. Die Mutter hat Glück, dass ihr Sohn hier behandelt werden kann. Bisher ist Khalil Bajbouj der einzige Kinderarzt in der Erstaufnahmeeinrichtung.
Zwei Mal pro Woche hat er seine Sprechstunde in dem Sanitätszelt eingerichtet. Weil Bajbouj selbst aus Syrien kommt, sehen viele in ihm einen Vertrauten. Seine Patienten sprechen mit ihm bei der Untersuchung über ihre persönlichen Erfahrungen auf der Flucht. Sie öffnen sich ihm, sehen in ihm einen Vertrauten.
Die Patienten vertrauen ihm
Trotzdem hält er die professionelle Distanz, kennt seine Grenzen. Er ist eben immer noch nur ihr Arzt. Seine medizinische Ausbildung hat er im Damaskus begonnen, später in Mainz den Facharzt zum Kinderarzt gemacht. „Wenn es sein muss, behandle ich aber auch Erwachsene“, sagt er. „Ich versuche zu helfen, wo ich kann.“ Das musste er im vergangenen Sommer oft. Er war von Anfang an dabei, als einer der wenigen freiwilligen Ärzte vor Ort, die versuchten, direkt Hilfe zu leisten. Als im August täglich bis zu 1500 Flüchtlinge vor den Toren warteten und die Mitarbeiter an ihre Grenzen stießen. Als es nur darum ging, dass keiner draußen auf der Wiese schlafen muss. Als die Angst vor Unruhen zwischen den Flüchtlingen in der Luft lag und die vor Angst vor Angriffen der Rechten wuchs.
In der Not konnten Bajbouj und seine Kollegen nur das Mindestmaß an Gesundheitsversorgung leisten. Schwer Erkrankte und Schwangere wurden zwar auch im Sommer direkt weitergeleitet. Aber Impfungen gegen Krankheiten wie Windpocken, Masern oder Kinderlähmung wurden oft erst einige Tage nach der Ankunft durchgeführt. Einige kamen ohne Untersuchung in den Notunterkünften an, dort brachen mehrmals Infektionskrankheiten aus. Flüchtlinge konnten deshalb nicht weiter auf die Unterkünfte verteilt werden.
Im August kamen bis zu 1500 Flüchtlinge täglich in Dortmund an
Doch inzwischen hat sich die Situation verbessert. Derzeit kommen im Durchschnitt nur noch 150 Flüchtlinge pro Woche in der Buschmühle an. In den kommenden Wochen soll in der Buschmühle eine Krankenstation mit vier Allgemeinmedizinern und einem Kinderarzt eröffnen. Sie werden die Erstuntersuchung durchführen und feste Sprechstunden haben. Auch syrische Ärzte sollen bestenfalls mit dabei sein: Ärzte, die selber vor längerer Zeit geflüchtet sind, hier leben und anerkannt sind, die Deutsch sprechen und arbeiten wollen. Außerdem sollen Flüchtlinge bald nicht mehr nur zwei, sondern acht Tage in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben – solange bis alle ersten Untersuchungen abgeschlossen sind.
Denn die Menschen kommen nicht nur zu Bajbouj, weil er Arzt ist, sondern auch, weil er aus Syrien kommt. Er hat eine Vorstellung von der Situation vor Ort und er spricht Arabisch. Sie verstehen ihn und er versteht sie, ihre Kultur, ihre Ängste. „Ich habe erlebt, dass Patienten Angst vor dem Röntgengerät haben. Aber wenn ich mit ihnen spreche, gewinnen sie schnell mein Vertrauen“, sagt er. Wenn man in der Fremde ankommt und krank ist, ist es wichtig, dass es jemanden gibt, der nicht nur die Sprache versteht. Sondern auch die Menschen.
Die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen
Wer ist verantwortlich?
Während der Asylverfahren werden Flüchtlinge keine regulären Mitglieder der Krankenversicherung. Ihre medizinische Versorgung wird in den meisten Ländern von den Kommunen organisiert und bezahlt. Dortmund betreibt derzeit 26 Notunterkünfte, für die jeweils ein Ansprechpartner in humanitären und sanitären Fragen zuständig ist.
Zu diesen Ansprechpartnern gehören unter anderen die Diakonie, die Caritas, die Johanniter und European Homecare. In den Erstaufnahmeeinrichtungen muss nach Paragraph 62 des Asylbewerbergesetzes eine erste Untersuchung durchgeführt werden.
In der Regel führen die Hilfsorganisationen diese mit einem eigenen Sanitätsdienst durch. Aufgrund der hohen Anzahl der Flüchtlinge, die im letzten Sommer in Deutschland ankamen, kam es zu Verzögerungen in den Abläufen. In Nordrhein-Westfalen wird voraussichtlich ab August dieses Jahres eine zentrale Landeserstaufnahmeeinrichtung in Bochum eingerichtet, die genau das verhindern soll. Sie wird die Verteilung der Flüchtlinge auf die Erstaufnahmeeinrichtungen in den verschiedenen Städten zentral koordinieren. So soll sichergestellt werden, dass Flüchtlinge sofort nach ihrer Ankunft und Registrierung untersucht werden können. Nach 15 Monaten können sich Asylbewerber eine gesetzliche Krankenversicherung suchen. Die Behörden bezahlen weiterhin ihren Beitrag. So gelangen sie schließlich in die Regelversorgung.
Was sind elektronische Gesundheitskarten?
Die Gesundheitskarte ist ein freiwilliges Angebot für die Gemeinden, um die Krankenversorgung der Flüchtlinge in den Kommunen zu vereinfachen. Bisher mussten die Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen beispielsweise in den ersten Monaten des Aufenthalts einen Behandlungsschein bei der Kommune beantragen, bevor sie zum Arzt gehen konnten. Hierdurch ging Zeit verloren. Mit der elektronischen Gesundheitskarte können die Flüchtlinge wie alle anderen Menschen direkt zum Arzt gehen, wenn sie akut erkrankt sind. Die Asylbewerber erhalten die elektronische Gesundheitskarte im Auftrag der jeweiligen Gemeinde, die sich für das Programm entschieden hat. Die Gemeinde meldet sie damit bei der zuständigen Krankenkasse an. Die Gesundheitskarte wird dann mit der Zahl „9“ versehen, die für „besondere Personengruppe“ steht. Das bedeutet, dass die Asylbewerber keine Zuzahlungen leisten müssen. Die Abrechnung erfolgt trotzdem wie gewohnt über die zuständige kassenärztliche Vereinigung. Die Leistungen zahlen die zuständigen Gemeinden.
Was sind Flüchtlingsambulanzen?
In Hamburg und Sachsen gibt es sie schon: die Flüchtlingsambulanzen. Auch in NRW sollen sie bald eingeführt werden, um Krankenhäuser zu entlasten. Die Ambulanz behandelt Flüchtlinge, die bereits in Kommunen untergebracht sind. Hierfür werden Ärzte aus den Fachgruppen Innere, Gynäkologie und Kinderheilkunde benötigt, außerdem Dolmetscher und Sozialarbeiter. In Dortmund laufen derzeit die Verhandlungen über die Umsetzung. Die Stadt wird wahrscheinlich die Kosten für die Flüchtlingsambulanz übernehmen und gemeinsam mit der kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe die Ausgestaltung der Sprechstunden planen.
Wer darf Flüchtlinge behandeln?
Bei dringenden Notfällen sind die Papiere egal – Ärzte dürfen Flüchtlinge im Notfall immer behandeln. In den meisten Ländern müssen die Geflüchteten einen Behandlungsschein beim Sozialamt abholen, bevor sie zum Arzt gehen können. Die Behandlungskosten werden über das Sozialamt abgerechnet. In Bremen und Hamburg aber erhalten Flüchtlinge die elektronische Gesundheitskarte der AOK – die Krankenkasse organisiert die medizinische Versorgung, die Rechnung bezahlen die Behörden. Auch NRW hat mittlerweile begonnen, elektronische Gesundheitskarten einzuführen.
Erhalten Flüchtlinge im Asylverfahren die gleichen Leistungen wie gesetzlich Versicherte?
In den ersten 15 Monaten ist die Versorgung auf das Nötigste beschränkt: die Erstuntersuchung, Impfungen und die Behandlung von akuten Schmerzen. Was akut ist und was nicht, ist eine Frage der Interpretation, denn in Einzelfällen könnten Flüchtlinge auch darüber hinaus behandelt werden, wenn die Behandlungen „zur Sicherung (…) der Gesundheit unerlässlich sind“. So steht es in Paragraph 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes zu sonstigen Leistungen.
Was wird nicht behandelt?
Flüchtlinge haben Anspruch auf die Verschreibung aller Heil- und Hilfsmittel sowie auf alle Behandlungsformen, ausgenommen künstliche Befruchtung, Sterilisation oder Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten. Nur Schwangere erhalten den vollen Umfang der Leistungen.
Dies ist ein Auszug aus einer längeren Reportage, die es hier zum Download gibt. Sie ist erschienen im Magazin "Neuland", das per Mail an christiane.carrivale@kas.de bestellt werden kann.